Reife und Wein

Autor: Carsten M. Stammen

Wein ist ein lebendiges Produkt, das sich mit der Zeit in der Flasche entwickelt. So durchläuft jeder gute Wein im Laufe seines Lebens verschiedene Phasen, in denen er seine Aromatik und Textur verändert.

 

Ein junger Wein ist wie ein kleines Kind: ungestüm, ein bisschen wild, charakterlich noch nicht fertig entwickelt. Die einzelnen Komponenten (Frucht, Säure, Tannin, eventuell Holz) sind noch nicht eingebunden und stehen vielleicht noch nebeneinander: Jede Komponente ist für sich präsent und identifizierbar. Die Frucht ist in dieser Phase intensiv ausgeprägt und auch die Säure kann ziemlich dominant sein; ebenso das Holz, das mit Rauch-, Röst-, Vanille- und Karamellnoten die anderen Aromen übertönen kann, sowie bei Rotweinen das Tannin, das ein trocknendes Gefühl im Mund hinterlässt.

 

Nach einer gewissen Zeit kommt der Wein in die Pubertät: Er wird unzugänglich, verschließt sich und wird unharmonisch. In dieser Phase findet ein chemischer Umbau statt. Die einzelnen Inhaltsstoffe reagieren miteinander, Aromenverbindungen werden aufgelöst und neu verknüpft, die Frucht geht zurück, Säure, Tannin und Holz werden allmählich eingebunden. In dieser Phase, die in der Regel mehrere Jahre dauert, ist der Wein kein Genuss und eigentlich untrinkbar. Er braucht einfach Ruhe und soll sich im Keller ungestört entwickeln.

 

Nach Abschluss des Umbaus ist der Wein gewissermaßen erwachsen. Die einzelnen Komponenten (Frucht, Säure, Tannin, Holz) sind jetzt harmonisch miteinander verbunden, neue Aromen sind hinzugekommen, der Wein ist komplexer und eleganter geworden und hat sein inneres Gleichgewicht gefunden; der Charakter ist voll ausgebildet. Die Fruchtaromen sind jetzt weniger vordergründig, dafür vielschichtiger. Im Laufe der weiteren Reifephase nehmen sie immer mehr zugunsten „herbstlicher“ Aromen (Nüsse, Erde, Pilze, Laub) ab. Das Tannin wird mürbe, die Textur vollmundig; die Farbe wird dunkler: goldgelb bei Weißweinen, bräunlich bei Rotweinen.

 

Danach folgt die Degenerationsphase: Der Wein stirbt langsam. Die Farbe verliert ihren Glanz und wird immer dunkler (bernsteinfarben bis braun bei Weißweinen, ziegelrot bis rotbraun bei Rotweinen). Die Frucht verschwindet völlig, die Aromatik geht immer stärker ins Erdig-Würzige und wird schließlich diffus und dumpf. Die Textur wird allmählich stumpf, das Tannin spröde, die einzelnen Komponenten lösen sich wieder aus ihrer Verbindung. Säure und Bitterstoffe bleiben letztlich als „Skelett“ übrig.

 

Das höchste Genusserlebnis ist es, einen Wein auf seinem Höhepunkt zu trinken: dann, wenn er seine optimale Trinkreife erreicht hat – in seinem Erwachsenenalter. Diese Phase nimmt bei hochwertigen Weinen die längste Zeit in ihrem Leben ein und erstreckt sich über etliche Jahre. Daher ist die Trinkreife auch kein Zeitpunkt, sondern ein Zeitraum. Ein wirklich guter Wein hält mindestens fünf Jahre, viele auch ein Mehrfaches davon. Dabei kommt es allerdings stets auf die Lagerbedingungen an, unter denen der Wein gereift ist – ideal ist: dunkel und bei konstanter, eher niedriger Temperatur.

 

Um abzuschätzen, wie sich ein Wein in der Zukunft entwickelt, kann man ihn kontrolliert der Luft aussetzen, indem man ihn in der geöffneten Flasche oder einer Karaffe einige Stunden oder sogar länger stehen lässt (gegebenenfalls gekühlt). Denn der Sauerstoffeinfluss ist es, der die Aromen und Textur des Weins über die Zeit verändert. Ein Wein, der nach einem, zwei oder drei Tagen in der geöffneten Flasche oder in der Karaffe nicht an Ausdruckskraft verliert oder sogar noch besser (komplexer, harmonischer, geschmeidiger) wird, hat ein großes Reifepotenzial von mehr als fünf weiteren Jahren. Ein Wein, der an der Luft nur wenige Stunden überlebt, hat ein geringes Reifepotenzial und sollte innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre getrunken werden.

 

Achtung: Dieses Experiment eignet sich vornehmlich für jüngere Weine. Alte Weine, die schon mehrere Jahrzehnte in der Flasche hinter sich haben, brechen mit Luft oft schnell und unaufhaltsam ein.

 

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